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Ghostbuster

Der  Geist ist alles - was du denkst, das wirst du.

August 2000

 

Es ist ein schöner Sommertag, die Sonnenstrahlen suchen sich den Weg durch den großen Kastanienbaum der Mitten auf dem Hof steht. Im Sommer immer ein schöner Anblick, aber im Herbst wenn der riesige, wunderschöne Baum seine Blätter verliert, hieß es für uns immer den Laub zusammen fegen - darauf hatte nie wirklich jemand Lust. Aber dieses kleine Übel nahm ich damals gerne in Kauf, denn es hieß ich bin hier, an meinem Rückzugsort, meinem kleinen Paradies. Jede frei Minute verbrachte ich damals auf dem Reiterhof. Die Besitzer Helga und Hans-Wilhelm waren zu meiner Familie geworden, meine Geschwister die zahlreichen Ponys und die anderen Mädchen, die ihre Freizeit hier verbrachten. Bei mir zuhause drehte es sich seit Jahren nur um den Betrieb, meine Eltern arbeiteten oder stritten sich, meine Brüder waren entweder nicht da oder ließen ihre schlechte Laune an mir aus. Seit dem 12 ten oder 13ten Lebensjahr - ich weiß es nicht mehr so genau - hatte jeder von uns Kindern feste Aufgaben im Haushalt oder in der Bäckerei. Die Schule leidete bei mir damals auch erheblich sodass ich irgendwie meinen Realschulabschluss schaffte und nach langen hin und her eine Ausbildung zur Tiermedizinschen Angestellten machte. Mein Traum war es nicht, aber ich wusste einfach nicht was ich sonst machen sollte. Auf der einen Seite traute ich mir nicht viel zu, auf der anderen Seite wollte ich einfach nur Zeit bei den Pferden verbringen.

 

Große, dunkle, etwas skeptische Augen schauen mich an als ich mit einem Halfter und Strick bewaffnet immer weiter in seine Nähe komme. Als er mich endlich erkennt, spitzt er seine Ohren und seine Augen fangen an sich in Vertrautheit umzuwandeln. "Nemo mein Hübscher, komm zu mir", ich halte ihm eine Karotte hin und bleibe stehen. Mit trägen Schritten kommt er langsam auf mich zu. Bei mir angekommen legt er seinen Kopf in meinen Arm und ich fange an ihn an den Ohren zu kraueln. Ich erinnere mich daran zurück wie er vor einigen Monaten auf dem Hof kam. Seine Vorbesitzer waren nicht gut zu ihm gewesen, ihm fehlte komplett das Vertrauen zu uns Menschen, damals mussten wir ihn mit Halfter auf die Koppel lassen damit wir ihn wieder einfangen konnten, denn sobald er frei war, ließ er niemanden mehr an sich ran. Beim Reiten war er auch nicht der einfachste, er warf mich nie ab, aber sobald er Angst bekam oder man die Beine zu doll an ihn randrückte, galoppierte er los und da er sich dann immer tiefer in die Angst rannte, war es nicht einfach ihn wieder zurück zu holen. Alle anderen wollten ihn deshalb auch nicht mehr reiten, also nahm ich mich ihm an. Wir wuchsen schnell zusammen und ich baute mir Stück für Stück sein Vertauen auf und er meins. Vertrauen hatte ich damals wohl auch kaum, vor allem nicht in mich selbst. Ich war oft von meinen Ängsten gesteuert und verstand es auch kaum dass Hans-Wilhelm mir soviel anvertraute. Ich war für ihn auch eine Art Tochter geworden und kümmerte mich nicht nur um seine Pferde, sondern gab auch Reitunterricht für Anfänger und half ihm bei allem was ich konnte. Er war Pferdehändler und kaufte oft schlimm vernachlässigte Pferde ein, die wir Mädels dann wieder aufpeppelten, damit sie in eine neue Familie verkauft werden konnten. Die richtigen Problemfällen übernahm ich immer gerne (war ja auch irgendwie einer), Nemo war wohl einer davon. Aber er war anders, er war meiner, das spürte ich schon als ich zum ersten Mal sah.

 

Bali 2018

 

"Wir sollten wieder mehr machen was wir als Kinder gerne gemacht haben!", als Anna diesen Satz beim Frühstück laut ausspricht, kommt mir Nemo sofort in den Kopf. Ich erinnere mich an die wunderschöne Zeit damals auf dem Ponyhof und mir wird warm ums Herz. "Warum vergessen wir sowas so schnell wenn wir erwachen werden?", frage ich die anderen. "Keine Ahnung, aus Angst aus der Rolle zu fallen? Du wirst ja schon komisch angeschaut wenn du als Erwachsene wir ein kleines Kind herum springst oder auf einer Schaukel sitzt und dich umher schwingen lässt...". Meine Gedanken springen weiter zu meinem Lieblingsplatz in Hamburg, der Ort an dem ich gerne bin um den Kopf mal wieder frei zu bekommen.

 

August 2018

 

Der Wind weht mir durch die Haare während ich mir wieder einen großen Schwung hole um mit den Füßen noch weiter Richtung Himmel zukommen. Bei jedem neuen Schwung merke ich wie meine Herz wieder voller wird, meine Gedanken leerer. Die Sonne lässt sich heute noch nicht wirklich blicken, trotzdem ist der Ausblick auf die Alster wieder ein Traum. Gerade heute morgen so friedvoll. Seit einigen Tagen hatten mich meine Geister wieder eingeholt, ich lasse mich zwar lange nicht mehr so davon beeinflussen wir früher, aber dennoch lag dieser leichte Schleier wieder auf mir. Ich wurde letzte Woche mit einigen Ängsten konfrontriert, denen ich mich aber fast allen gestellt hatte. Indem ich mir ihnen bewusst geworden war und sie auch laut ausgesprochen hatte. Es war toll zu beobachten was dadurch mit mir passierte und auch wie die Menschen in meinem Umfeld damit umgingen. Eine meine größten Ängste ist es, Menschen die mir Nahe stehen zu sagen wenn mich etwas stört oder beschäftigt, also quasi vor ihnen zu mir selbst zu stehen. Meine Gefühle vor denen zu äußeren, schien unmöglich für mich zu sein. "Damals auf dem Ponyhof war es so einfach", denke ich während ich langsam zum stoppen komme," den Ponys konnte man ohne Probleme zeigen wie man sich fühlte, noch besser, sie spürten es..." Die Schmerzen in meiner Brust kommen langsam wieder hoch, seit Mittwoch macht mir meine OP-Narbe aus dem letzen Jahr wieder zu schaffen. Mit den Schmerzen kamen auch die nächste Angst, nämlich dass doch nicht wie meine Ärtzin immer sagt "alles in Ordnung ist, sie müssen sich Zeit geben", sondern dass ich wohl möglich wieder operiert werden müsste oder noch schlimmer es nie wieder gut werden würde und ich meinen Traum als Yogalehrerin zu arbeiten wieder an den Nagel hängen müsste, denn wer will schon eine Yogalehrerin, die sich nicht so flexible bewegen kann. Und was passiert wenn ich dadurch alle meine Stunden absagen muss. Dadurch kamen dann natürlich auch die finanziellen Ängste wieder hoch.

 

Eine Endlosschleife dachte ich schon am Freitag als ich mir meinen Cappuccino aus dem Cafe´´  holte. "Aber ob du dich davon wieder runter ziehen lässt, ist ganz alleine deine Entscheidung!", sagte ich mir selbst, nahm mein Handy in die Hand und rief meinen Bruder Paddy an. Ich sprach all meine Ängste und Gedanken laut aus und fühlte mich danach wirklich etwas freier. Mein Bruder hörte mir geduldig zu und gab mir ein paar lieb gemeinte Tipps, die ich zum Teil auch berücksichtigte. "Die Lösung liegt aber in mir!", wurde mir bewusst als ich wieder daheim ankam. "Fühl mal tief in dich hinein um zu erkennen was deine Brust sich wieder zusammen ziehen lässt!". Das tat ich auch das ganze Wochenende und ging die herausgefunden Themen auch langsam an. Und tatsächlich, umso freier wurde ich auch wieder. Als ich Sonntagabend dann in der Badewanne lag, fiel mein Blick wie so oft auf meine Tattoo am Handgelenk "LOVE", steht dort. "Sei lieb zu dir selber!" Mir stiegen (wie auch so oft - ich bin einfach ein kleines Sensiblechen) die Tränen ins Gesicht. "Jenny, was erwartest du eigentlich schon wieder von dir selber? Du bist die letzten Jahre nicht gut mit deinem Körper umgegangen und jetzt erwartest du dass er innerhalb von einem Jahr wieder funktioniert?!" "Jeder noch so kleine Schritt um seine alten Muster in Neue umzuwandeln ist ein Erfolg", dieser Satz steht zwar in einer meiner Lehrhefte für die Ernährungsberatung und soll auf die kleinen Erfolge, die man während der Änderung seiner Essgewonheiten hat hinweisen, aber irgendwie passt er auch zu meiner Lebenssituation gerade. Kleine Schritte und vor allem seine eigenen gehen, sich wie ich immer wieder prädige, nicht auf die Meinung von anderen fixieren. Sich selber vertrauen und liebevoll zu sich selbst sein.

 

August 2000

 

"Heute muss er funktionieren Jenny! Die Leute haben wirklich Interesse an ihm",mit diesen Worten von Hans-Wilhelm im Ohr lasse ich mich langsam in den Sattel fallen. Nemo spitzt neugierig seine Ohren als ich meinen Sitz suche. Ich tätschel ihm liebevoll am Hals und rede mir ein "Heute schaffen wir das". Ich bin nervöus, denn so langsam merke ich Hansi´s Ungeduld. Nemo ist schon viel länger als alle anderen Pferde sonst auf dem Hof, denn jedesmal wenn ein potenzieler Käufer da war, hat er seine übliche Show abgezogen. Selbst wenn er beim Vorreiten sich von seiner besten Seite zeigte, spätestens wenn ein der Käufer sich auf ihn drauf saß, dauerte es nicht lange bis er wie ein junges Fohlen orientierungslos über den Reitplatz peste. Bisher hatte jeder, der auf ihm drauf sass in diesen Momenten Angst bekommen und ihn als unreitbar abgestempelt. "Für den Schlachter ist er gut!", hatte ich auch schon einige Male gehört. Diesmal steigt auch eine Angst in mir auf. "Wird er ihm zum Schlachter bringen wenn es heute nichts wird?". Am langen Zügel lasse ich ihn ein paar Runden langsam warm werden. Ich bin angespannt, Nemo nimmt die Stimmung auf, seine Ohren kommen langsam immer weiter nach hinten, seine Nüstern werden größer. Mit einem leichten Trab versuche ich die Anspannung aus uns beiden loszuwerden, es funktioniert für einen kleine Augenblick. "Lass ihn galoppieren", fordert uns der Käufer vom Seitenrand aus auf. "Jetzt schon?", bezweifle ich, aber gebe ihm trotzdem die Anweisung einen Gang schneller zu werden. Nemo erschrickt sich und macht einen riesigen Satz nach vorne, ich hole ihn kurz zurück aber verliere dann die Kontrolle. Er mobilisiert all seine Kräfte in seine Ängste um und springt von einem eh schon schnellen Galopp in eine Art Rennpferdmodus um. Meine Anweisungen von oben ignoriert er und rennt sich immer weiter in eine Panik rein. Ich versuche ruhig zu bleiben, merke aber auch wie die Angst in mir weiter hochkommt. "Bitte halte an!", flüster ich ihn leise zu. Nach einer gefühlten Ewigkeit wird er langsam langsamer und ich bekomme ihn wieder in den Schritt durch zurück. Mein Herz schlägt bis zum Anschlag als ich vorsichtig von ihm absteige. Mein Blick geht Richtung Hans-Wilhelm und den Käufern, die aber schon längst verschwunden sind. Ich drücke meinen Kopf gegen seinen Hals und fange an zu weinen "Was machst du nur mit mir, ich hatte solche Angst"!

 

August 2018

 

Mit einem großen Sprung lasse ich mich von der Schaukel fallen und lande sicher mit beiden Beinen auf dem Boden. "Schluss mit den Ängsten, ich gehe jetzt wieder los und hole mir was ich brauche!". Ich weiß doch was ich will nur fehlt mir mal wieder der Mut es umzusetzen. Was total idiotisch ist, denn "Courage" (Mut) steht als zweites Tattoo auf meiner rechten Schulter, also warum immer wieder diese Selbstzweifle? Warum mache ich mich immer noch so oft so klein? Schluss damit. Ich merke wie ich immer mehr freier Atmen kann und meine Schmerzen in der Brust weniger werden. Dies ist wieder eine neue Chance über mich hinauszuwachsen und mir zu holen was ich für mein Leben brauche. Der Sommer geht in ein paar Wochen zu ende und somit auch mein eigener Deal nach dem Sommer zu wissen wo es beruflich hingehen soll. Und ich weiß es jetzt tatsächlich! Und privat, mit meinen Brüdern bin ich so eng und ehrlich wie noch nie in meinem Leben, meine Freunde sind meine andere Familie und in der Liebe... nun ja, vielleicht hole ich mir da jetzt auch endlich was ich brauche. Nur wenn ich eins von Nemo gelernt habe, dann dass man sich  Zeit geben muss...

 

August 2000

 

"Ich kann nicht böse auf dich sein, denke ich während ich ihm seinen Sattel und Trense behutsam abnehme. Total erschöpft steht er in mitten des Reitplatzes vor mir. "Du bist frei! Lauf!", fordere ich ihn auf, aber er bleibt mit gesenkte Kopf vor mir stehen. Ich kraule ihn wie heute morgen hinter seinen Ohren. Hans-Wilhelm beobachtet die Situation und ruft mich zu sich. Ich drehe den Kopf zu ihm und setzte mich langsam Richtung Zaun in Bewegung. Nemo folgt mit auf Schritt und Tritt. Wir bleiben beide bei dem alten Reiterhofbesitzer stehen. "Jetzt bekomme ich eine Standpauke", überlege ich als ich in seine dunklen Augen schaue. Die erst etwas finstere Miene bekommt ein Lächeln ins Gesicht und seine Augen ein kleines Funkel. "Na, das war ja was", schmunzelt er mich an, "Ich dachte du fliegst in hohen Bogen herunter... weißt du Jenny, auch die Pferde suchen sich ihren Partner aus und er...", sein Blick geht Richtung Nemo, der wie als wäre nichts gewesen neben mir steht, "... er hat sich dich ausgesucht. Ihr beide passt perfekt zusammen, denn ihr könnt beide miteinander an euren Ängsten arbeiten..."

 

Leider habe ich mich damals gegen Nemo entschieden, denn ich hatte damals schon ein eigenes Pony, die Lisa. Ich dachte damals dass sie besser zu mir passen würde da sich "einfacher" war. Mir fehlte damals der Mut die Verantwortung für so ein Pferd wie Nemo zu übernehmen. Aber als er damals dann doch verkauft wurde, brach für mich eine kleine Welt zusammen. Ich weinte wochenlang und versuchte ihn wieder zu finden. Nur hatten die neuen Besitzer ihn nach kurzer Zeit weiter verkauft und wollten mir den Namen nicht nennen. Nach Nemo begegnete ich nie wieder so ein Pferd mit solch einer Verbindung zu mir. Ich verlor auch nach und nach die Freude am reiten und die ersten Wehnen meiner Essstörung machten sich bemerkbar. Ich liebte dieses Pferd, war mir dessen damals aber einfach nicht bewusst, bzw. hatte nicht den Mut meine Lisa für ihn aufzugeben. Heute bereue ich diese Entscheidung ein bisschen, denn ich nahm mir selber die Möglichkeit glücklich zu sein. Lisa war auch ein supertolles Pony, mit ihr gewann ich viele Schleifen und Pokale. Aber Nemo war und ist das Pferd meines Herzens gewesen, mein kleiner Ghostbuster. Denn wenn ich auf ihm saß, kamen zwar viele Ängste auf, aber er half mir sich ihnen zu stellen.

 

Darum meine Bitte an euch und auch an mich. Seid mutig euch euren Geistern zu stellen, seid mutig den Menschen die euch etwas bedeuten dies zu sagen und immer ehrlich zu ihnen zu sein, seid mutig ehrlich zu euch und euren Träumen zu sein. In meinen Träumen sitze ich immer noch ohne Sattel und Zaumzeug auf Nemos Rücken und galloppiere über die Weide. Und wer weiß,  vielleicht ist mein neuer Nemo auch schon bald an meiner Seite und hilft mir wieder mich meinen Geistern zu stellen. 

 

Während ich den heutigen Text schreibe, bekomme ich eine Nachricht von meiner Freundin Jenny "Was ist das heutige Thema deiner heutigen Yogastunde?". Ich überlege kurz, denn ehrlich gesagt weiß ich es noch nicht. Als ich mit dem Text fertig bin, steht es aber ganz klar vor meinen Augen. "Unsere eigenen Geister", antworte ich ihr.

Meine Yogastunden versuche ich immer sehr persönlich und authentisch zu gestalten. Das ist auch der Grund warum ich mich lange nicht getraut habe in anderen Yogastudios zu unterrichten. Ich hatte Angst dass mir das - wie so oft wenn ich irgendwo angestellt war - diese Freiheit wieder genommen wird. "Das ist süß", lachte mich vor ein paar Tagen meine Yogafreundin Julia an. Sie unterreichtet schon seit einiger Zeit in einem Yogastudio. "Bei uns kannst du machen was du willst, Hauptsache es hat etwas mit Yoga zu tun..." war ihre Antwort auf meinen Zweifle gewesen dort zu unterrichten. Trotzdem ging ich mit gemischte Gefühlen letzte Woche in das Studio um ihre Stunde zu vertreten. Ich hatte wirklich Angst davor. Denn es war wieder was anderes. Bei meinen Yogastunden im Park kann ich es so gestalten wie ich es möchte und in so einem Studio sind die Erwartungen bestimmt doppelt so hoch! "Schwachsinn!",sagte ich mir selbst als ich freudestrahlend aus dem Yogaraum kam. Ich war glücklich mich dieser Angst gestellt zu haben und einen Geist weniger in meinem Kopf rumschwirren zu sehen. Mir war kotzübel vor der Stunde gewesen, was aber auch ein gutes Zeichen war. Denn wenn wir vor etwas Neuen aufgeregt sind, dann ist es uns auch wichtig. Denn unser Bauchgefühl hat doch oft recht!